Rotlicht in Wien und der Welt

15 Jahre Haft für Mord an Anna Garncarz – Teil 1

Posted in Strafprozesse by rotlichtwien on 27. April 2010

Stark bewacht, durch Blitzlichtgewitter und im Eilschritt wird Unterweltler Dusko Radusavljevic nach seiner Zeugenaussage rund um seine erschossene Geliebte von der Wache wieder auf seinen Haftraum geführt. Sein anstehendes Großverfahren um mutmassliche Bildung einer kriminellen Organisation im Westen Wiens war nicht Thema des Mordprozesses gegen Martin S., der aus Eifersucht beider Geliebte mit der Schrotflinte erschossen hatte. (Foto: Rotlicht in Wien)

Es gibt Anwaltsgehilfen, Anwaltslehrlinge und Anwaltsmeister. Vielleicht liegt es am Alter, das weise macht. Dazu kommt die Erfahrung aus vier Jahrzehnten praktischer Arbeit. Obwohl Strafprozesse sehr kompliziert sind, ist Herbert Eichenseder im Stande, es sehr einfach aussehen zu lassen. Er ist ein Anwalt, von dem man in mehrstündigen Verhandlungen nie ein dummes Wort hört. Er unterschreitet auch in banalsten Situationen nie eine Schmerzgrenze. Sein Schützling Martin S. scheiterte in Würde, wurde wegen Mordes verurteilt, aber nur zu 15 Jahren Haft.

(LG Wien, am 27. April 2010) Das Strafverfahren gegen Martin S. hat zwei Stars: Rocky und den Anwalt des Angeklagten, Herbert Eichenseder. Das merkt man schon zu Beginn: Ausverkauft! Die Reihen im Saal 203 sind dicht belegt wie selten, es ist kein Sitzplatz frei. Im Publikum sitzen viele szenebekannte Gesichter: Hauke-Adjutant Peter Laskaris wird gesichtet, links neben ihm der Ex-Polizeihorcher und Nun-Wieder-Hauke-Vertraute Christian Frasl. Im Publikum einige Polizisten in Zivil, aber auch Sollenau-Experte Franz Mikschl samt Begleiter. Anwesend auch Johann Branis, der Bruder des Pepe Branis. Dazu einige Damen aus dem Laufhaus 599. Rocky, der „Sicherheitschef“ Richard Steiners, zieht auch in der Presse: Gut zehn Journalisten nehmen in der ersten Reihe Platz. Allesamt: Gerichtsgeeichtes Publikum, das Disziplin zeigt.

Den Vorsitz in diesem Geschworenenprozess hat einer, der schon 2009 bewies, dass er vor vollem Haus Kontrolle über ein mehrstündiges Verfahren hält: Richter Andreas Böhm lenkte den mehrtägigen Gerd Honsik-Prozess. Mit Mordprozessen hat er Erfahrung: Er hatte im legendären Gerhard Steinbauer-Prozess rund um fünffachen Mord den ersten Beisitz. Er weiss: In einem Mordprozess geht es um die Ergründung von Schuld und Motiv. Die erste soll Klarheit schaffen, das zweite eine rationale Begründung für das Unfassbare geben.

Es gibt Mordangeklagte, die Schwerverbrecher wurden, weil sie die kriminelle Energie von klein an langsam steigerten und irgendwann explodieren ließen, weil sie merkten, dass das Leben in der Sackgasse steckt. Martin S., 28, gehört nicht zu dieser Gruppe. Er ist der Typ bürgerlicher Mörder. Sein Fall, aber nicht nur sein Fall, sondern auch der Tod der Polin Anna ist ein tragischer Fall, der wohl am Besten im Wort Eifersucht zusammenzufassen ist. Es war keine krankhafte Eifersucht, sondern eine schleichende. Sigmund Freud definierte einmal so: „Eifersucht ist die Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“

Angeklagter mit Rettersyndrom

Martin S. ist ein zivilisierter, unbescholtener Mann mit tadelloser Berufsausbildung und Arbeitsstelle gewesen, ein Mann ohne Laster, psychische Probleme und einer ganz durchschnittlichen Sehnsucht nach einem künftigen Familienleben mit einer Frau. Er hat nur einen Fehler begangen: Er hatte das Rettersyndrom. Er suchte sich als Niederösterreicher aus ganz normalen, bürgerlichen Verhältnissen in Wien eine Freundin, die 1. gebürtige Polin war, 2. zum Zeitpunkt – was er aber nicht wusste – Freigängerin der JA Schwarzau, wo sie wegen Drogendelikten einsaß, 3. drogensüchtig und auf therapeutischem Entzug, 4. mit Ehemann und Kindvater, der zur gleichen Zeit in der JA Hirtenberg wegen Drogendelikten einsaß, 5. zwei weitere Lebensgefährten hatte, darunter einen albanischen Tierarzt und den Sicherheitschef des Rotlichtcapos von Wien und die 6. nach ihrer Haft in einem Caféhaus des Richard Steiner eine Arbeitsstelle annahm, was zu einer gewissen Abhängigkeit vom Sicherheitschef des Rotlichtcapos führte. Zählt man all das zusammen, also eins bis sechs, muss für eine sensible, bürgerliche Seele wie Martin S., der einen teilweise unbeholfenen, gleichwohl sympathischen, niederösterreichischen Dialekt spricht, das wie ein gordischer Knoten erscheinen. Und er beschloss, diesen Knoten kurzerhand zu zerschlagen.

Es gibt Leute, die jung sind und das Rettersyndrom haben, wenn sie es im Leben geordneter haben als andere. Dann wollen sie helfen, weil sie nicht mitansehen wollen, dass es andere schlechter haben.

Der Richter hat Verständnis für den Mann und seine grundsolide Lebenseinstellung, nicht aber für die Tat. Das ist eine übliche Trennung im Strafprozess: Man unterteilt die Lage in Täterpersönlichkeit und Tat. Ein gut geführter Mordprozess weiss die positiven Seiten einer Täterpersönlichkeit zu würdigen, auch wenn die Tat noch so grausam war. Daher stellt Richter Andreas Böhm einmal eine einfache Frage: „Wie haben Sie sie kennengelernt?“ Die einfache wie überraschende Antwort von Martin S.: „I hob die Anna kennengelernt im Metro, wo sie gearbeitet hat.“ Er hat bei den Gurkengläsern etwas gesucht: „Sie hat mir immer weitergeholfen.“ Das hat bei ihm starken Eindruck hinterlassen. Wenn sie ihm bei den Gurkengläsern im „Metro“ hilft, dachte er, will er ihr auch helfen. Der Richter frägt den Angeklagten einmal: „Was ist für Sie eine Beziehung?“. Martin S. antwortet ohne viel Nachdenken, grundsolide wie es vermutlich 98% der Österreicher sehen würden: „Gemeinsame Treffen. Etwas unternehmen. Miteinander schlafen.“

Das Problem des Mannes, der vor Gericht mit sauber geschnittenen, schwarzen Haaren, leichten Geheimratsecken, gutmütigen, ruhigen Augen, schwarzem Anzug und weißem Hemd ohne Krawatte sitzt, sein Problem war, dass er mit seinen soliden Ansichten auf eine Frau traf, die diese Ansichten nicht lebte. Suchtgiftproblem, Haft, Mann auch in Haft, mehrere Liebhaber gleichzeitig, Unterweltsnähe. Damit ist die Schnittmenge komplett und Martin S. war eines Tages, er kannte Anna gerade einmal ein halbes Jahr, wild entschlossen, sie aus diesem Sumpf herauszuziehen. Sein Problem: Er ist nicht kaltschnäuzig. Doch er wollte es versuchen. Er hatte immer seine Zweifel. Warum sie selten Zeit hatte, warum sie immer erst nach Mitternacht telefonisch für ihn erreichbar war. Einmal, einen Monat vor der Tat, kam er unangemeldet zu ihr, läutete an. Erst nach mehreren Versuchen öffnete sie die Tür. O-Ton: „Sie öffnet die Tür, etwas zerfahren. Da sitzt Rocky bei ihr auf dem Bett. Ich habe erklärt: Wir wollten fortgehen und haben telefoniert. Rocky glaubt das nicht. Er sagte: Das ist jetzt meine Freundin.“ Auch hier kam es zu keinen Gewalttaten, das wäre Martin S. nicht eingefallen. Er ließ sich weiter von seiner Freundin und der Unterweltsgang demütigen. Er wusste, er konnte diesen Leuten nicht das Wasser reichen. Sie spielen mit ihm. Er fuhr nach Hause und schickte Anna ein SMS. Zu diesem Zeitpunkt war er wütend. Dann rief ihn Anna wieder an und sagte: „Martin, das is net so wie es aussieht.“ Auf Richternachfrage: „Eifersüchtig waren Sie gar nicht?“ Angeklagter: „Sie hat immer gesagt: Des ist net so wies aussieht.“ Doch seine innere Wut stieg. Man provozierte ihn von mehreren Seiten. Eine sensible Seele wie ihn störte das.

Kauf der Waffe

Richter Böhm will wissen: „Die Waffe, warum?“ Martin S.: „Damit sie mich endlich ernstnimmt.“ Er wollte sie nun vor den Unterweltleuten beschützen, auch wenn Anna ihm sagte, dass Rocky ihm dann die Buckln und Käfigkämpfer schickt. Das beeindruckte ihn wenig, denn er hatte das Helfersyndrom das auch Mutter Teresa auszeichnet und die Welt veränderte. Und zweitens gibt es den berühmten Satz: Omnia vincit amor es nos cedamus amori. Den Satz kennt er zwar nicht, er heißt zu deutsch: „Die Liebe besiegt alles, so lasst uns der Liebe nachgeben!“ Er hoffte immer, dass er nie Gewalt anwenden muss und der Liebende und nicht der Gewaltbereite am Ende siegt. Das war seine naive Hoffnung.

Im Prozess antwortet Martin S. auf alle Fragen klar und die Antworten wirken natürlich und nicht einstudiert. Hätte er eine kaufmännische Angestellte kennengelernt und seine Kollegialität an ihr ausgelebt, säßen heute nicht 80 Leute im Gerichtssaal bei einem Mordprozess. Doch er war von der Idee nicht abzubringen, einer Junkibraut auf den geraden Weg zu helfen. Er kaufte eine Waffe. Keine Ladypistole oder einen Trommelrevolver. Sondern ein ein Meter langes Gewehr. Und weil er kein Unterweltler ist, sondern ein grader Michel, meldete Martin S. die Waffe ordnungsgemäß bei der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt an. Mit Reisepass und Kaufbestätigung. Er hatte nun Waffe und Waffenpass. Ab nun wollte er seine Freundin, die ihm beim Leben aller Lebenden versprach, von Drogen clean zu bleiben, mit einem Gewehr „schützen“. Wie er sich das vorstellte, erzählte er bei Gericht nicht. Ob er damit den ganzen großspurigen Steiner-Clan umblasen würde, falls sich einer noch einmal seiner Freundin näherte, erzählte er auch nicht.

Hier hätte der Richter einhaken können oder müssen. Wenn ein Mann, der auf eine Frau hält und sagt, er wolle sie mit der Waffe beschützen, und man davon ausgehen will, dass er sie nicht gegen die Frau einsetzt, dann wäre die Frage angebracht gewesen, gegen wen er sie dann einsetzen wollte. Klassische Eifersuchtsdramen sind kein Kinderkram. Verkürzt ist es das: Es ist ein Triangel. Es gibt ein Paar und einen Dritten. Meist richtet sich die Gewalt auf den Dritten. Daher wäre, logisch zu Ende gedacht, Rocky die Zielscheibe gewesen. Der Eifersuchtskiller klassischen Zuschnitts bläst den Nebenbuhler um, nicht die Frau. Der Nebenbuhler ist derjenige, der sich in eine Beziehung zu tief einmischt. In vielen Fällen bezahlt er, wenn Waffen im Spiel sind, mit dem Leben. Da Rocky als Zeuge kam, hätte der Richter den „Sicherheitschef“ fragen können, ob er sich als Ziel sah. Das unterblieb.

Unterweltler mit Midlife-Crisis

Rockys Auftritt bleibt ein Mysterium. Das Erste verwundert: Rocky besteht darauf, auf Serbokroatisch auszusagen. Also mit Dolmetsch. Hiermit stellt sich die Frage, wie er mit Anna gesprochen hat, oder mit Martin S., als er wieder einmal die Nacht auf der Bettkante Annas verbrachte. Sprach man da auch Serbokroatisch oder Deutsch? Wenn Deutsch, wäre es nicht zu viel verlangt gewesen, dass er seine Gerichtsaussage auch auf Deutsch durchzieht. Doch er will Extrawürste und den Dolmetsch.

Rocky präsentiert sich weinerlich bis gereizt. Bereits unmittelbar nach der Tat vertraute er Medien an, dass Anna die erste Freundin sei, die nicht am Strich arbeitete. Es war „wahre Liebe“. Auch im Gerichtssaal 203 behält er diese Linie bei, wenngleich durchklingt, dass auch Rocky gehörnt wurde. Denn nach dem Tod von Anna am 13. September 2009 fand die Kriminalpolizei heraus, dass Anna noch mit einem albanischen Tierarzt hielt und somit eine dritte Parallelbeziehung (neben Martin S. und Rocky) führte. Rocky gibt sich vor dem Richter Böhm zerknischt und händeringend-ratlos über die Seele der Frauen: „Ich wollte, dass sie mich aufklärt.“ Dann holt er schwermütig, merkbar emotional auf serbokroatisch aus und erzählt vor dem staunenden Richter in ausladender Gestik von einem gemeinsamen Urlaub: „Ich war mit ihr am Meer. Mann war kein Thema.“ Fragt sich welcher: Martin S., der albanische Tierarzt oder der Ex-Mann (Kindvater der 11 jährigen Tochter), der in der Hirtenberger Justizanstalt einsaß? Auch Rocky schrieb dann SMS. „Scheiss SMS“, wie er zugibt. Es waren wohl keine schönen Worte darin. Man merkt: Rocky hat Frauenprobleme, Eheprobleme (er verließ für Anna seine Frau) und er sitzt derzeit in U-Haft. Doch er sagt auch: „Es gibt Mädchen im Laufhaus, die belegen können, dass Anna gut über mich spricht.“ Das stellt Richter Böhm nie in Abrede. Denn Rocky ist heute nur Zeuge.

Man erfährt auch: Nachdem Rocky gerade 3 Monate eine Beziehung zu Anna unterhielt, ließ er sie schon mit seinem Auto fahren. Das ist für den Fall wichtig: Denn am 12. September 2009 „habe ich ihr um 0 Uhr 40 das Auto übergeben und sie ist dann mit meinem Auto nach Hause gefahren“, schildert er die letzte Stunde von Anna. Er hatte noch am Gürtel etwas zu erledigen und wollte dann nachkommen. Um 0 Uhr 52 war Anna tot.

Wie das geschah, kann auch der Gutachter Daniela Riesser von der Wiener Gerichtsmedizin nicht genau sagen. Er weiß nur eines: „Die Frau ist schnell verstorben.“ Es gab keinen Alkolholeinfluss bei ihr, aber Schmauchspuren an den Händen, was darauf schließen lässt, dass er Schuss aus nächster Nähe abgegeben wurde. Genau aus 10 Zentimetern. Der Schuss ging mitten in den Bauch. Todesursache: Inneres Verbluten.

Die Munition: 7,32 Millimeter großes Kaliber. Beim Heer nennt man solche Munition: Mannstoppend.

[Teil 1 finish
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R. W. (Ressort: Strafprozesse)